Nächtelang hatten wir zu dritt oder zu viert in einer kleinen Künstlerbude gehockt und über unser Manifest der Künste diskutiert. „Wo drei oder vier deutsche Künstler vereint sind, da ist der Gruppengeist nichtfern“, schrieb der Kulturjournalist einer Essener Tageszeitung ,Heiner Stachelhaus, über unsere Künstlergruppe „Araskade 69“, von der wir behaupteten, dass sie kein neues Waschmittel sei.
Wir sprachen über Lateinamerika, den Dauerbrenner, über Che Guevera, hörten Degenhardt und zwar so lange, bis wir mitsingen konnten. Dazu wurde Rotwein eingeschenkt, eine üble Sorte, die Löcher in den Magen brannte, entsprechend dem zur Verfügung stehende Budget. Ständig sahen wir uns vor die Entscheidung gestellt: schaffen wir uns Kremserweiß an oder eine Flasche „Vin Rouge“?
Wie schon erwähnt, der Sänger Degenhardt: „Da sitzen sie auf Kirchenstufen, murmeln Litanein, atmen Weihrauch ein“.
Vollbärtig, die Augen in tiefen Höhlen vergraben, formulierten wir Thesen und Antithesen, insbesondere unser Gruppenkonzept betreffend.
Demnach vollzog sich Kunst am Ort des Geschehens. Ich trug meinen Anteil dazu bei, indem ich die erste Freiluftgalerie mit wasserdichten Gemälden präsentierte.
Wir waren aber auch Schriftsteller! Die Museumsdirektoren lobten unsere sprachlichen Ergüsse, die Schriftstellergilde hingegen kam zu dem Entschluss, wir seien die talentiertesten Maler weit und breit und empfahlen uns dem Schicksal: keiner wollte uns haben.
Die Wut ließen wir am Kulturbanausen aus. Davon gab es, dem Herrn sei es gedankt, in Hülle und Fülle.
Es war eine spannende Zeit. Je öfter und je intensiver wir auf Ablehnung stießen, desto reichhaltiger gestaltete sich unsere Produktion an Ideen, insbesondere der Provokation!
Es ist wahrlich nicht schwer, die bestehende Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit „beschissen“ zu befinden.
Aus meinen Veranstaltungen der Freiluftgalerie wurden zunehmend Präsentationen in Form von Kunstaktionen. Im Zuge der Amerikanisierung der Gesellschaft wurde diesem bunten Treiben eine Umtaufe in „Performance“ zuteil, Einige investigativ agierende Journalisten bemängelten die jahrmarktähnlichen „Klamauk-Auftritte des Meisters“, wie man mich gönnerhaft betitelte.
Da auch ein Fahrrad über zwei Pedale verfügt, kamen wir innerhalb der Künstlergruppe Araskade 69 überein, ein Buch mit dem anspruchsvollen Titel „Ströme unserer Zeit“ zu veröffentlichen. Die Inhalte mussten ins öffentliche Leben, denn wir wussten ja, was sich dahinter verbarg! Kurzerhand nahmen wir noch einen Schreiber in unsere Reihen auf. Eine Frau gab es ja bereits in unserer Gruppe – wegen der Quotenregelung. Sie hatte nur einen Nachteil: ihr fehlte der Bart!
Der Neue nannte sich Jonas Feigenbaum und kam vom Theologiestudium her. Seine mehr oder weniger kurzen Geschichten erzählten unter anderem von „Pflungs“, dem Riesen, der fortlaufend rülpste – meistens voller Verachtung der menschlichen Umtriebe. Wir empfanden den Lesestoff ungeheuer revolutionär: ein rülpsender Riese, noch dazu aus der Feder eines angehenden Geistlichen.
Das nun entstandene Werk, von drei Autoren verfasst, sollte zunächst „Drei Drei“ heißen. Beabsichtigt war damit, eine Parallele zur „Da- Da“ Bewegung herzustellen, nur eben literarisch. Wir fanden heraus, dass Drei – Drei konkreter war als Da – Da. Aus dieser Bewegung war ja bekanntermaßen der Dadaismus entstanden, eine von 1050 Kunstrichtungen, die sich „die Klinke“ in die Hand gaben. Das musste aufhören!
Einer der Kirchner-Brüder, Heinrich, zählte sich zu den surrealistischen Autoren. Meine Beiträge nannte ich neosymbolistisch. Das sind sie bis heute geblieben. Uns war klar, dass ein Durchbruch nur über Ismen und Schissmen zu bewerkstelligen war. Jedenfalls hatten wir etliche Seiten zusammengebracht. Die Zeit war einfach reif. Jedenfalls dachten wir das.
Auf der Suche nach einem geeigneten Verlag waren wir über Mehrheitsbeschluss darüber einig geworden, dass nur ein renommierter Verlag für unser Vorhaben in Frage komme. Wir entschieden uns für den Wagenbach Verlag und schickten das Manuskript auf die lange Reise nach Berlin.
Es dauerte nicht lange, vielleicht drei, vier Wochen, da kam das dicke Textbündel wieder zurück. Nichts war dem Text entnommen. Im Gegenteil, uns erschien es noch dicker als zum Zeitpunkt des Versandes . Als Anlage entdeckten wir eine Karte, die uns Cheflektor „Delius“ persönlich beschriftet hatte:
„Sicher habt Ihr beim Schreiben viel Freude gehabt. Sollte mehr dahinter stecken, so bitte ich vielmals um Entschuldigung, Ihr Delius, Cheflektor.“
Kinder, war das eine Pleite! Daraufhin gaben zwei von uns das Schreiben auf. Ich befürchte, dass sie sich noch bis heute deshalb schämen, wenn sie nicht inzwischen verstorben sind. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits meine Lebensanstellung als Beamter in einem Gefängnis und fühlte mich, was Schriftstellerei und Kunst anbetraf, völlig unabhängig. Schließlich und zuletzt: mich gab es überhaupt nicht, wofür hat man ein Pseudonym? Mein damaliger Anstaltsleiter, Oberregierungsrat Solbach, hielt mich für sein „bestes Pferd“ im Stall. Und entsprechend darf man auch mal wiehern!
Heute, nach einem halben Jahrhundert, melde ich berechtigte Zweifel an der Handlungsweise des Kollegen Delius an.
Ich hätte mich an seiner Stelle anders verhalten:
„Von den eingereichten dreihundert Manuskriptseiten erscheint mir die Seite 185 im Ansatz wichtig. Der Verlag sucht noch nach einer geeigneten Form, diesen Text als Taschenbuch herauszubringen.“
So geschehen hätte das Werk, wenn auch nur auszugsweise, dem anspruchsvollen Titel „Ströme unserer Zeit“ wenigstens der damaligen Epoche mehr als erschöpfend entsprochen.