Schreiben

Es wird so viel geschrieben in diesem Land, u.a. innerhalb der Literatur. Jeder bedeutende deutsche Bürger, jede bedeutende deutsche Bürgerin haben eines mit einander: Sie müssen ein Haus gebaut, einen Knaben gezeugt und einen Baum gepflanzt haben. Da gibt es noch das vierte, das Dingsda – ein Buch geschrieben haben, am besten einen Roman, einen Krimi. Es gibt sehr viele Menschen, die vom Elend dieser Welt nicht genug kriegen können. Sie müssen darüber hinaus noch Kriminalgeschichten oder Kriminalromane lesen nach dem Motto: Heinrich, mich gruselt es vor dir!

Es soll ja einer Statistik nach mehr Autoren als Leser geben, aber noch mehr Fernsehzuschauer. Schlechte Zeiten für Verlage!

Natürlich habe ich immer gepredigt: „Schreibt, schreibt, schreibt!“

Schreibt euch den Frust von der Seele, die Wut aus dem Bauch und die Langeweile aus dem Haus.

Aber so?

Jeder Deutsche ist ein geborener Schriftsteller, ein Autor, einer der sich selbst bewegt – ein Minischiller oder ein Minigoethe, aber wenigstens ein Minisimpel!

Formuliert den Herzschmerz in Form eines Klageliedes –sogenannte Hausfrauenlyrik: „Du hast die Perle in mir nicht gesehen, sie fiel mir aus dem Kranze. Auf der Suche nach dem Lottoschein hast du sie zertreten!“

Als nächste Zeile hätte stehen müssen, „du Blödmann!“ Stand da aber nicht!

Neurosen hat es immer schon gegeben, aber sie haben selten zusammengepasst. Nun wird der Ruf laut nach einer Individualneurose für alle, die Menschen werden aggressiver, der Ton rauer.

Wir laufen mit Neurosen durchs Leben und schenken der Angebeteten neue Rosen, das Stück für 2 Euro 80 Cent, sozusagen als katalysatorischer Lastenausgleich zwischen den Geschlechtern. Oder wir fassen Argumente und Gegenargumente in Texten zusammen und packen diese in lyrisches Geschenkpapier, doch wer hört, bzw. wer liest?

Sie vielleicht!

Die beste Literatur ist das Telefonbuch. Es ist von Jahr zu Jahr auf dem neuesten Stand, chronologisch und zeitgeschichtlich perfekt zusammengestellt.

Wer nicht mehr am Leben teilnimmt, wird alsbald gelöscht. Das klingt grausam, ich stimme Ihnen zu, aber wir können den Lauf der Dinge nicht mehr verändern, also schreiben wir!

Es lohnt sich auch nicht, den Finger drohend zu erheben, sondern strecken ihn waagerecht gegen den Nächsten aus: „Der da hat angefangen!“

Trennt euch doch endlich von edlen Worten und Gedanken, bleiben wir doch sachlich. Eine Dokumentation lehrt uns nachzuvollziehen, wie alles gekommen ist. Wir werden es aber bald wieder vergessen. Na also!

Prügeln wir uns doch gleich um Brot, Frauen und ein Dach über dem Kopf anstatt alles niederzuschreiben. Reißen wir uns doch gleich gegenseitig die Kleider vom Leib, weshalb diese vielen demokratischen Umstände?

Feines Benehmen nach dem Einbruch: Schließe die Tür leise, wenn du gehst!

Literatur ist eine von mehreren Formen, dieses Unsinnshaus zu beschreiben, in welchem wir wohnen. Sie denken anders darüber? Dann sollten Sie schreiben.

Oder schreiben Sie Märchen. Beim Märchen sind Sie nicht in der Beweispflicht. Man kann Ihnen überhaupt nichts nachweisen. Gegenüber dem Kommentar ist ein Märchen im Vorteil. Es hat mit der Realität nichts Konkretes im Sinn. Es kann bestenfalls als Gleichnis mit offenem Ende interpretiert werden. Es endet oft mit der Erkenntnis, dass die Beteiligten noch leben,  und zwar bis an ihr glückliches Ende, wenn sie nicht zwischenzeitlich verstorben sind. Diese Einschränkung muss sein!

Das ist doch nun wahrlich demokratisch und darüber hinaus sehr weise. Wir lassen die Protagonisten zwar nicht immer hoch, doch zumindest solange leben, bis wir meinen, dass sie nunmehr eingeschläfert werden können.

Die Erkenntnis, dass zu viele Schneewittchen, Rosenrot, Frösche, Könige und Zwerge allmählich mein Fassungsvermögen strapazieren, endet mit jähem Euthanasieprozess und erlöst den Leser von Erinnerungsqualen.

Schließlich will der kleine Schriftsteller auch einmal erwachsen werden, wenn er diesen Prozess schon nicht verhindern kann.

Ich verdanke meine bescheidenen literarischen Ergüsse meinem damaligen Deutschlehrer, dem alten Studienrat Derigs. Der wusste seine Klasse der Untersekunda mit dem Gedicht von Manfred Kyber zu begeistern. Er rezitierte mit strengem Blick das Gedicht vom Frosch:

„Es saß ein Frosch im grünen Gras, er tat nicht dies, er tat nicht das, er tat überhaupt nicht was, er war nur nass!“

Weiter kam er nicht. Den missratenen Schülern war es doch egal, aus welcher berühmten Feder diese tiefgreifende Erkenntnis stammt. Stattdessen stampften sie mit den Füßen analog zum Versfuß im Rhythmus auf den  Klassenboden und brachen in schallendes Gelächter aus.

Ich lachte nicht mit, sondern hatte diesen Text nachdenklich in mich aufgenommen und bewahre ihn bis heute in Erinnerung. Verblüfft war ich weniger vom einfachen und logischen Versfuß, als vielmehr von der schlichten, grundehrlichen Aussage des Dichters. Von Jamben und Trochäen habe ich erst viel später erfahren.

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Kategorisiert in Satire

Von Hartmut Tettweiler Reliwette

Hartmut T. Reliwette, geb. 1943 in Berlin Maler, Bildhauer, Performer, Autor. 70 Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen oder Performances im In- und Ausland realisiert. Zusammenarbeit mit Peter Coryllis, Joseph Beuys, Karl-Heinz Schreiber und anderen zeitgenössischen Kunstschaffenden und Autoren/Schriftstellern. Mehr über Reliwette siehe „Autoren-Info“.