„Tannenzapfen auf dem Klemmbrett“
Die schöne Jahreszeit neigte sich ihrem Ende zu, dennoch genoss es Amos, von Opa Hermann im Fahrradanhänger durch die Natur gezogen zu werden. Das Piratenschaf hatte es sich in seiner Kuscheldecke bequem gemacht und ließ sich hin und wieder zu einem wohligen „Mäh“ hinrei-
ßen. Grün soll sich ja beruhigend auf den Gemütszustand auswirken und die ostfriesische Landschaft ist ja bekanntlich grün soweit das Auge reicht, zumindest „unten rum“.
Etwas weiter voraus zeichnete sich die Silhouette eines kleinen Fichten-wäldchens ab. Als sie näher kamen, rief Amos plötzlich: „Opa Hermann, Opa Hermann, halt an! Da oben ist etwas in den Bäumen!“
Der alte Mann stoppte das Gefährt und drehte sich zu seinem Schützling um: „Was hast Du gesehen außer Tannenzapfen und weshalb diese Aufregung?“
Amos war beleidigt und schaute etwas piratiger drein als sonst: „Die Tannenzapfen meine ich nicht, aber da oben in den Bäumen sind Menschen!“
Opa Hermann grummelte etwas in seinen Bart, stieg vom Fahrrad und schaute Amos skeptisch an, blickte dann aber zu den Baumwipfeln hoch. Tatsächlich! Er sah einige Männer mit Helmen, die angegurtet in Seilen hingen und seltsame Verrenkungen machten, als suchten sie etwas oder versuchten Halt zu finden. Opa Hermann war ziemlich erstaunt, denn was er sah, ergab keinen Sinn! Holzfäller waren es nicht, denn nirgendwo lag Holz auf dem Boden, weder Kettensägen gab es noch Äxte.
Hinter ihnen war ein sportlich aussehender Mittvierziger aufgetaucht, der ebenfalls einen Helm trug und eine Trillerpfeife zwischen den Zähnen balancierte. Er hielt ein Klemmbrett wie ein Schild vor seiner Brust.
„Verschwindet hier“, war sein liebloser Kommentar, und dann schaute er wieder nach oben.
„Ich bin Amos, ein gefährliches Piratenschaf und das ist Opa Hermann“, versuchte Amos einen Dialog anzuregen. „Wir suchen meine lieben Piratenfreunde, hast du sie vielleicht gesehen?“
Dem unhöflichen Fremden fiel die Trillerpfeife aus dem Mund.
„Das hier ist ein konzentriertes Manager-Training der kostenintensiven Art, und deshalb verschwindest du Bauchredner besser hier“, knurrte er Opa Hermann an.
„Nee nee“, sagte jetzt Opa Hermann, „nix Bauchredner, der kleine Freund kann wirklich sprechen, aber was mich jetzt doch neugierig macht, was suchen die da oben?“
„Sie suchen nichts – sie finden sich selbst, ihre Grenzen, den Bezug zur Umwelt und zur Realität.“
„Und zu Tannenzapfen?“, fragte Amos. Ärgerlich drehte sich der Trainer,
um einen solchen handelte es sich nämlich, zu ihm um. „Darum geht es nur in zweiter Linie (er sagte „sekundär“ ), es ist eine Sinneserweiterung, einmal etwas Grünes anzufassen anstatt es nur theoretisch zu beschrei-
ben“. „Ah, ich verstehe“, antwortete Opa Hermann, „im Grunde sollen sie erfahren, worüber sie reden?“ (Ein schlauer Philosoph und Schriftsteller hatte einmal gesagt: „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich rede“).
„So in etwa“, sagte der Trainer.
Mit lautem „Plums-Klatsch“ war einer der Sinnessucher auf dem nadeligen Waldboden aufgeschlagen, nachdem sich seine Seilhalterung
vom Sicherungsgürtel gelöst hatte.
„Das gibt Minuspunkte, Dr. Schreller! So geht das nicht! Sie müssen diesen Baum lieben, nur so bezwingen Sie ihn!“
Opa Hermann befreite den Gestürzten aus seinem Leinengewirr und half ihm auf die Beine. Beschämt klopfte der Getadelte die Tannennadeln aus seiner Outdoor-Kluft und gelobte „mehr Konzentration auf das Wesent- liche“.
„Komm, wir fahren lieber weiter, bevor der nächste Kursteilnehmer in unseren Fahrradanhänger fällt“.
Opa Hermann trat in die Pedalen und weiter ging es. Amos versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er hatte so viele neue Worte gehört, die noch nie auf dem Piratensegler angewendet wurden. „Sinneserweiterung“, der Käpten Hornblewer wird sich totlachen, wenn ich ihm davon erzähle.
Hoch in die Wanten – ja, aber auf Bäume klettern wie die Affen?
„Was wollten die denn mit den Tannenzapfen?“ fragte Amos, nachdem er genug nachgedacht hatte und zu keinem nennenswerten Denkergebnis gekommen war.
„Die Herren sammeln keine Tannenzapfen, die wollen endlich mal etwas mit den Händen anfassen, z.B. klebrigen Harz der Äste und ihren Körper erleben, wenn sie vom Schreibtisch fern sind oder ihrem Börsensessel.
Das sind Manager, die unheimlich viel Geld verdienen nur mit Ideen und auch Spekulationen. Diese Leute zahlen sehr viel Geld für derartige Lehrgänge. Anschließend behaupten sie, dass sie sehr viel erfahren und gelernt haben, schon allein deshalb, weil es eben – wie gesagt- kosten- intensiv ist“.
Amos dachte schon wieder angestrengt nach. Plötzlich kam ihm eine Ge-
schäftsidee: „Weißt Du was, Opa Hermann, wir setzen zwei Manager in diesen Fahrradanhänger und legen ihnen einige Tannenzapfen auf die Decke. Dann fährst du sie durch die Gegend. Der dritte muss schieben helfen und du trillerst mit der Pfeife“.
„So dumm ist diese Idee gar nicht, ich fahre über ein paar Steine, damit es rumpelt, und wenn wir sagen, dass nur drei Personen gleichzeitig an dem Lehrgang teilnehmen können, dann glauben die Leute erst recht, dass es sich um etwas Besonderes handelt, eben um etwas „Kostenintensives“.
Nach absolviertem Lehrgang bekommen die Leute ein Diplom ausgehändigt mit Siegellack und Wappen“, fügte Opa Hermann hinzu, und um seinen Mund spielte ein verschmitztes Grinsen.
Amos strahlte: „Vielleicht noch eine Augenklappe dazu?“