Glück – die Abwesenheit von Schmerz -sind wir im Zeitalter der Resignation wunschlos glücklich?

Schon mehrfach habe ich mich mit dem Thema „Glück“ befasst und meine Gedanken dazu dargelegt. Neuerlicher Grund, mich damit zu beschäftigen, waren drei Anlässe:
Eine junge Polin aus unserem Freundeskreis, die ich auf ihre Sprachprüfung in Deutsch an der Universität Oldenburg vorbereitet hatte, kam, inzwischen dort als Studentin eingeschrieben, mit der Aufgabe zu mir, eine Definition von „Glück“ zu Papier zu bringen.

Ein Essay des Kolumnisten Peter Bachér (geb. 1927, langjähriger Herausgeber der „Hörzu“ und Chefredakteur „Bild am Sonntag“) für „Die Welt“, die er „Gebannt von Schopenhauers Pechformel“ titelte.
Und schließlich die prägnant-einfachen Worte einer Frau beim Erntedankfest ihrer Kirche, zu dessen Schmuck sie mit Früchten aus ihrem Garten beigetragen hatte: „Uns geht es so gut, da sollten wir doch dankbar sein.“

Auf der Suche nach einer griffigen Formulierung für „Glück“, die unserer Studentin hätte weiterhelfen können, gaben unsere im Gebrauch befindlichen Lexika keine Auskunft. „Glück auf!“ gab es da, „Glückshaube“, „Glückskäfer“, „Glücksfall“, „Glücksrad“ oder „Glücksspiel“. Aber „Glück“? Ist das Thema zu diffizil, zu vielschichtig, zu personengebunden, zu interpretierbar, zu philosophisch, gar nicht zu definieren? Beeinflussbar? Oder ist es überhaupt nicht zu beeinflussen, reine Glückssache halt?

Schließlich wurden wir dennoch fündig: In einem „Illustrierten Wörterbuch der Deutschen Sprache, aktuelles Nachschlagewerk der 100.000 Begriffe“ von 1995, aus dem Nachlass einer Tante: „Das Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände, eines besonders günstigen Zufalls, eine günstige Fügung des Schicksals“. Und schließlich noch: Glück sei „eine angenehme und freudige Ge­mütsverfassung, in der man sich befindet, wenn man in den Besitz oder Genuss von etwas kommt, was man sich gewünscht hat“.

„Uns geht es so gut, da sollten wir doch dankbar sein“, sagte die Frau beim Erntedankfest. Die Früchte ihrer Arbeit, ihr Garten, das ist ihr Glück. Sie ist sich dieses Glücks bewusst, weiß sie doch, dass viele auch in unserem Land sich schwer tun, über die Runden zu kommen. Aber auch die können, global betrachtet, noch dankbar sein, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der es Suppenküchen und Tafeln gibt. In der sich noch immer Stärkere um Schwächere kümmern, in der es trotz des angeblich vorherrschenden Egoismus und Materialismus noch Solidarität und Nächstenliebe gibt. In dem auch der Staat, gleich, wer ihn regiert, jedem Obdach und medizinische Hilfe gewährt.

Theodor Fontane (1819 – 1898) empfahl: „Wer glücklich ist, sollte nicht noch glücklicher sein wollen“. Sein Rat lautet: „Ein bescheidenes Glück – die beste Form des Glückes“.

Peter Bachér „quälte“, wie er in der „Welt“ schrieb, als junger Reporter den seinerzeit sehr populären und berühmten Schriftsteller Hans Habe mit der Frage „Was ist Glück“? Er erhielt eine völlig unerwartete Antwort: „Glück, mein lieber junger Freund, ist die Abwesenheit von Schmerz“. Der Journalist hatte damals die landläufigen Vorstellungen von Glück: Ein dickes Bankkonto, ein Flug in seine „Sehnsuchtsstadt“, ein Sprung auf der Karriereleiter, eine leidenschaftliche Liebe. All das, was sich auch heute viele, die meisten vielleicht, eben unter Glück vorstellen. Auf keinen Fall aber doch „die Abwesenheit von Schmerz“. Von einer in seinen Augen so negativen Definition von Glück wollte Peter Bachér seinerzeit nichts wissen. Inzwischen habe er aber verstanden, so schrieb er in seiner Kolumne, was der Schriftsteller damals gemeint habe: „Mein Blick auf das Glück hat sich dramatisch verändert, denn es gab Verwundungen aller Art: Der Blutdruck fuhr Achterbahn, das Herz flimmerte, die Nieren produzierten plötzlich Steine – der Traum von einem Glück, das leicht dahinschwebt, war ausgeträumt“.

Jeder ist „seines Glückes Schmied“ also nichts als hohle Worte? Für Bachér wurde „Glück“ zum beherrschenden Dauerthema. „Wie in einem Rausch“ habe er „stapelweise Glücks-Bücher“ gelesen. Alle mit dem Anspruch, Glück könne man wie ein Handwerk lernen. Alle Schriften, so der Journalist, habe er gelesen, die behaupten, das Geheimnis „Glück“ enträtseln zu können. Er habe sich eingereiht „in das Millionenheer, das als Sinn- und Glücksforscher unterwegs ist“. Eine für ihn eingängige Deutung von Glück fand der Kolumnist schließlich in der Philosophie: Bei Schopenhauer (1788 – 1860). Der schrieb in einer Abhandlung „Der Mensch und sein Glücksverlangen“: „Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und es ist der, dass wir da sind, um glücklich zu sein“. Der Philosoph räumte damit den Glücksanspruch beiseite. Peter Bachér meint, wenn man diesem hochmütigen Irrtum nicht erliege, seine Glückserwartungen zügele, einige Schicksalsschläge überwunden habe, sein man bereit, eine zweite Schopenhauer-Erkenntnis zu verinnerlichen: „Besonders überwiegt die Gesundheit alle äußerlichen Güter so sehr, dass wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist als ein kranker König“. Jetzt hatte der Kolumnist den Schriftsteller Hans Habe verstanden, dass Glück die Abwesenheit von Schmerz sei. Bachér: „Wer lange genug gelebt hat, weiß, dass es nur ein Sekundenglück gibt und nur, wenn wir es rechtzeitig erkennen und ergreifen, haben wir Glück gehabt“.


Viele haben – hoffentlich – sicherlich spätestens, seitdem ihnen die Wucht der Weltwirtschaftskrise und der Corona-Pandemie bewusst geworden sind, erkannt, dass Reichtum und Fülle etwas anderes sind, als das, was Ökonomen darunter verstehen. Wenn aber die Steigerung der Konsumoptionen nicht der Garant für Lebensglück und erweiterte Freiheit seien, werde die Frage nach dem Preis für diese Art Fortschritt wichtig, machen sich der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels und die Politikwissenschaftler Johano Strasser und Wolfgang Merkel in einem Papier Gedanken, das sie für die Grundwertekommission der SPD verfassten. Darin heißt es: „Der Mensch ist mehr als ein homo oeconomicus. Wirtschaften ist elementar, es ist die Basis für menschliches Leben. Aber die ökonomischen sind nicht die höchsten Werte. Eine Gesellschaft, die keine höheren Werte kennt als die, die an der Börse gehandelt werden, wäre öde. Glück ist nicht die Summe wahrgenommener Konsumoptionen. „Freunde und Liebespartner, um nur diese zu nennen, Pfarrer und Gläubige verhalten sich zueinander nicht wie Produzenten und Konsumenten. Das, was man seit den siebziger Jahren Lebensqualität nennt, hängt wesentlich von der politisch-organisierbaren sozialen Lebenswelt der Menschen ab“. Die Anmaßung eines Primats der Ökonomie über alle anderen Bereiche der Gesellschaft sei freiheitsgefährdend. Wenn Menschen nicht mehr einigermaßen zuverlässig planen, hinter anonymisierten Geschehen keine Akteure mehr erkennen könnten, entstehe eine Schicksalsgläubigkeit, die sich für die Zukunft von Freiheit und Demokratie als äußerst bedrohlich erweisen könne. Wo das Gefühl wachse, einem übermächtigen Schicksal ausgeliefert zu sein, schlage die Stunde der Gurus, Sektenführer, politischen Scharlatane aller Art. Triumphiere die verkürzte ökonomische Ratio, öffne sich dem Irrationalismus Tür und Tor. Es bedürfe keiner Beweisführung, dass sich das westliche Gesellschafts- und Wirtschaftssystem dem sowjetischen in allen Belangen als überlegen erwiesen habe, werde aber das westliche Gesellschaftssystem unter dem Druck der Marktradikalisten zunehmend auf Marktwirtschaft pur reduziert, komme es zu Fehlentwicklungen, die zur Zerstörung der Freiheit führten.

Ein Pastor beim Erntedankfest sagte „Wir sind Teil der Gesellschaft und haben Anteil an ihrem Wohlstand und ihren Segnungen. Und wir tun gut daran, das zu erkennen und Gott zu danken für das, wovon wir leben.“ Der Geistliche bei der Erntedank-Andacht in einer Kirche meiner Heimatgemeinde forderte auf zu bedenken, dass uns die Erde nicht gehört, sondern wir sie nur verwalten. Eine Grunderkenntnis, meine ich, die Basis allen künftigen Glücks, deren Nichtbeachtung untilgbares Unglück für unseren Planeten und die gesamte Menschheit bedeuten würde.

Professor Dr. Jörg Splett, katholischer Religionsphilosoph und Anthropologe, sinnierte in einem Zeitungsessay darüber, ob man sein Glück verfolgen könne. Er stellt die provokative These auf, Kennwort unseres Zeitalters sei „wunschloses Unglück“. Man höre und lese, immer weniger Menschen fühlten sich zufrieden, geschweige denn glücklich. Immer mehr verzichteten sogar darauf, glücklich sein zu wollen. Wir würden in einem Zeitalter der Resignation leben. Die Menschen verdrängten ihre Sehnsüchte und entwickelten dafür in den unterschiedlichsten Formen Süchte. Drogen stellten nur die Spitze verbreiteter Glückssucht dar, die uns gegenüber jeder Werbung hilflos mache. Dabei schrieb schon Thomas Jefferson (1743 -1826, 3. US-Präsident, Gründer der Demokratischen Partei, Mit­verfasser der Unabhängigkeitserklärung) in der amerikanischen Verfassung, das Recht des Bürgers auf „pursuit happiness“ fest. Das meinte zunächst etwas recht Nüchternes, nämlich das Recht darauf, „sein Glück zu machen“. Was bedeutete, ein Geschäft ohne Bevormundung durch den Staat aufzubauen. Gemeint war aber auch, jeder habe „seines Glückes Schmied“ zu sein, statt dass die Institutionen es garantieren, ihm es also zuteilen würden. Hier setze die Philosophie ein, meint Professor Splett in seinem Aufsatz. Zunächst stelle sich die Frage, ob Glück geschmiedet werden könne. „Man kann gewiss eine Chance vertun“, so der Essayist. „Wer es versäumt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, muss den Misserfolg sich selbst zuschreiben. Für Nichtstun – ob privat, gesellschaftlich oder politisch – wird hier mitnichten plädiert. Doch wäre andererseits ein Erfolg ganz der unsere? Muss nicht eben dieses Schmieden selbst noch einmal glücken? Glücken muss, was immer wir tun“. Zum Glück heiße es, so Jörg Splett weiter, gehöre jemand, mit dem man es teilen könne. „Und wenn der oder die, die ich dafür ins Auge fasse, mich nicht mögen, wird es kaum helfen, sie zu bearbeiten, mich doch sympathisch zu finden“.

Wir sind unter dem Aspekt der Toleranz auf dem aussichtsreicheren Weg ins Glück. Haben gewiss Menschen, die uns mögen. „Wie kommen nun diejenigen zu ihrem Glück, denen es die anderen nicht schenken wollen?“ fragt Professor Splett. Und folgert: „Er verlangt es vom Staat. Und der – als moderner Sozialstaat – akzeptiert diesen Anspruch“. Was daraus folgt, macht Splett mit einer Karikatur deutlich: „Nehmen wir an, die Wissenschaft habe erkannt, der Mensch brauche pro Tag ein Dutzend Streicheleinheiten. Die werden in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft des privaten Habens allzu vielen vorenthalten. Also schafft man humanerweise ein Gesetz, das jedem Bürger einen entsprechenden Rechtsanspruch gibt. Dessen Einlösung ließe sich durch doppelte Weise sichern: Durch die Einrichtung von Planstellen oder/und durch Verpflichtung der privaten Umgebung daheim wie am Arbeitsplatz“. Das Ergebnis sei erstens eine neue, kontrollierende Behörde und zweitens, dass der Mensch verkümmere, wenn er nicht zu dem Dutzend ihm gesicherter Einheiten wenigstens eine frei und freiwillige Streicheleinheit erhalte. Die würde ihm aber niemand mehr zugestehen, da er doch an der Erfüllung seines Plansolls schon mehr als genug habe.

Mit dem grotesken Beispiel will der Professor drastisch deutlich machen, warum mit der Zunahme an Sozialstaatlichkeit die zwischenmenschlichen Temperaturen sinken. Es ließen sich nicht alle Grundbedürfnisse in Rechte überführen. Jörg Splett: „Ich habe kein Recht darauf, irgendwem sympathisch zu sein, obwohl niemand ohne den von Max Frisch (1911 – 1991) so genannten „Engel der Sympathie“ zu leben vermöchte“.

Rechte und Pflichten seien nicht streng symmetrisch zu denken, Pflichten, die man anderen gegenüber habe, könnten nicht restlos in ein Recht des anderen an uns verwandelt werden. Das „Trage bei zu anderer Glück“ möge ein Imperativ an mich sein. Ein Recht auf Glück gebe es aber natürlich nicht. „Wie aber steht es zumindest mit der Verfolgung des Glücks?“ Splett zieht das folgende Resümee: Wie wenn es statt Brechts „Alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher“ darauf ankäme innezuhalten, sich vom Glück ansprechen zu lassen? „Von einer Blume, einer Wolkenformation, von einem Musikstück, einem Menschengesicht, von einer aufrüttelnden Einsicht. An die Stelle atemloser Verfolgung trete die Bereitschaft, sich treffen, sich antreffen und betreffen zu lassen“.

 „Wenn ich einen grünen Zweig im Herzen trage, wird sich der Singvogel darauf niederlassen“, sagen die Chinesen.

Lassen Sie mich mit einem, wie ich meine, ebenso herrlichen wie tiefsinnigen jüdischen Witz das Thema „Glück, Glück haben und kein Glück haben“ beenden:


Moshe hadert mit der Welt und dem Schicksal – und klagt Gott sein Leid:
„Herr, warum bist du so grausam? Ich war immer ein guter Diener. Alles hast du mir genommen. Wenn es dich gibt, zeig‘ mir, dass du ein guter Gott bist – und lasse mich einmal in der Lotterie gewinnen.“ Nichts passiert. Am nächsten Tag betet Moshe wieder und wieder, es passiert nichts. Er betet fortan jeden Tag um einen Lotteriegewinn – ein ganzes Jahr lang. Dann geschieht endlich das erhoffte Wunder. Der Himmel über ihm öffnet sich und eine tiefe Stimme spricht: „Moshe, ich habe dein Klagelied ein Jahr lang anhören müssen, jetzt, bitte, gib‘ du mir eine Chance – und kaufe dir endlich ein Los!“

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, das richtige Los, den grünen Zweig in Ihren Herzen und den Singvogel darauf. Und viele Glücksmomente in einem immer noch goldenen Herbst, dessen Schönheiten es zu entdecken und zu bewundern gibt.

Von Hans Tuspe

Hans Tuspe ist freier Journalist und Autor. Er lebt und wirkt in Norddeutschland.